Internet Archäologie

"Es wird gewesen sein." - Das Futur2 ist ein Tempus, das nicht nur in manchen Sprachen auf diesem Planeten nicht gebildet werden kann, sondern auch von manchen Individuen unseres Volkes, die ungleich dem Angehörigen eines Naturvolkes, das einen anderen Begriff von Zeit hat, selbst keinen Begriff von Zeit haben.
Wir schreiben das Jahr 2131. Wir sind auf dem Mars gelandet. Unsere Technik hat sich deutlich weiterentwickelt. Kein bemannter Flugkörper hat unser Sonnensystem bisher verlassen. Wir haben immernoch keine Kontakte mit Außerirdischen, obwohl unsere orbitualen Teleskope mit Hilfe der Spektralanalyse inzwischen unzählige planetare Kandidaten für eine Evolution intelligenten Lebens im All gefunden haben. Die Katastrofe, ja, wir standen am Rand der Katastrofe. Ein amerikanischer Präsident, der ein Bauernsohn war, der sein Vermögen in Las Vegas gewonnen hatte und der die Angewohnheit hatte, sich in brenzligen Situationen mit seinem Cowboyhut selbst frische Luft zu fächeln, hat sie abgewendet, die eine Katastrofe, den globalen Atomkrieg, indem er, als alle seine Berater, einschließlich seines theologischen Beistandes, eines Predigers der "New Church of Christ" sagten: "Angriff Sir!", stattdessen im bevorstehenden Konflikt nachgab.
Es heißt, dieser Mann sei nicht sehr intelligent gewesen, aber eine gewisse Klugheit hat ihm die Nachwelt zuerkannt.
Die anderen, weniger spektakulären Katastrofen, wie die klimatischen Veränderungen oder die exponentielle Zunahme der Bevölkerung, haben wir weniger bravourös gelöst, vielmehr lösten diese, sofern wir ihre Auswirkungen nicht noch immer spüren, sich selbst, unter Zurhilfenahme wieder anderer Katastrofen, wie Epidemien, Industrieunfälle usw., bis das Ausmaß der uns ständig begleitenden Katastrofe auf ein Niveau sank, das man mit etwas Galgenhumor als "stabil" bezeichnen kann.
Die Leistung unserer Computersysteme hat deutlich zugenommen, allein weil Konzepte der Kriegführung des frühen 21.Jahrhunderts, wie "network centric warfare", oder wenig später "cyber centric warfare" dies unabdingbar machten, und der Krieg, wie Heraklit bereits 800 vChr feststellt, eben der "Vater aller Dinge" ist. Der "asymmetrische Krieg", wie ihn televisionäre Kommentatoren der Ereignisse Anfang des 21.Jahrhunderts genannt haben, als unablässigen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit möglichst vieler Unbeteiligter, hat freilich nie ganz aufgehört, und der Unterschied zu damals ist im Wesentlichen der, dass die Betroffenen die Betroffenheit der Mächtigen nicht mehr so unkritisch teilen, wie sie es vor 130 Jahren noch getan hätten. Vielmehr haben Meinungen wie Loyalitäten sich bis zur Unerkennbarkeit des Für- und Wider- ausdifferenziert, woran schließlich nicht mal die Massenmedien, mit ihrer nach wie vor einseitigen Berichterstattung, mehr etwas ändern konnten, da auch die Anzahl der Lobbies, die die Massenmedien bezahlten und somit deren zu vertretende Meinung diktierten exponentiell angewachsen ist.
Die Beteiligung an Wahlen hat sich an der 10% Marke eingependelt, egal ob in Kapstadt, New York, Wladiwostok oder Panama. Die Menschen halten nicht mehr an der Demokratie fest, sondern die Demokratie hält sie fest.

Dafür hat das Interesse an der Wissenschaft derer, die es sich leisten können, etwas zu wissen, in letzter Zeit wieder zugenommen, und seit der 100 Jahr Feier des Geburtstags des ursprünglich "Arpa - Net" genannten Internets im Jahr 2070, also vor 61 jahren, gibt es den Lehrstuhl für Internet - Archäologie an panamerikanischen, afrikanischen, australischen und eurasischen Universitäten.

Die Internet Archäologie hat es sich als Disziplin zur Aufgabe gemacht, die Vergangenheit anhand von Logdateien zu rekonstruieren, wobei freilich zunächst offenliegende Quellen wie die internationalen Server - Archive zur Anwendung kommen, aber auch Funde wie alte PCs oder längst vergessene Datensicherungen zur Auswertung kommen. Wie ihre Vorgängerin, die Archäologie, wörtlich Anfangskunde, leitet die Internet - Archäologie sich ebenfalls direkt von der Filosofie, mit anderen Worten: der Liebe zur Weisheit, ab und bedient sich als Hilfswissenschaft der Soziologie, um deren statistische Zaubereien es nach etlichen Skandalen "still" geworden ist.
Seit der Weltwirtschaftskrise im jahre 2020 gilt die Betriebswirtschaftslehre als "brotlose Kunst", und die meisten Menschen haben sich "inneren Werten" zugewandt, nämlich ihren Eigenen.

Der Fachbereich Matrimonialpsychologie der Internet - Archäologie hat festgestellt, dass es im ersten Jahrzehnt des 21.Jahrhunderts vermehrt zu "Online - Hochzeiten" kam, deren Beteiligte, meistens "Mann" und "Frau" für gewöhnlich im realen Leben eine Scheidung hinter sich hatten und sich nun nach einer eheähnlichen Solidargemeinschaft sehnten, die sie im "Chat" zu verwirklichen suchten, dies waren mit Hilfe der damaligen Skriptsprachen erstellte "Räume", in denen man sich unter Verwendung einer sogenannten Tastatur, der damals noch üblichen Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, miteinander unterhielt.
In der Tat waren diese Solidargemeinschaften jedoch selten "eheähnlich", zumal die Brautleute sich oft im realen Leben nicht einmal begegneten. Ebenso gab es "online - geborene" virtuelle Kinder und um die rites de passage zu vervollständigen, konnte man auch online sterben, was durch das Löschen eines Kontos mit dem entsprechenden Nickname bewerkstelligt wurde. Das englische Wort für "Spitzname" hatte sich für die mehr oder weniger fantasievollen, nicht selten sexuell anzüglichen, namentlichen Kennungen der Chatter durchgesetzt, die sie sich selbst gaben.
Die Feststellung gegenseitiger Attraktivität erfolgte über den Austausch digitaler Bilder, kurz "pics"(abgeleitet von "pictures"), noch kürzer "pix", oder durch ein anfangs noch recht instabiles Bildtelefonsystem, über das die meisten Online-Teilnehmer verfügten.
Dort begegnete man sich schreibenderweise oder sprechenderweise, letzteres oft begleitet von Rückkopplungen, die freilich dadurch entstanden, dass Mikrofone und Lautsprecher räumlich nicht weit voneinander getrennt waren. Dieser Effekt wurde durch die Angewohnheit vieler Teilnehmer, zum Chat, zum Bildtelefon oder anderweitiger Beschäftigung mit dem Internet, "gesaugte" Musik zu hören, noch verstärkt, besonders wenn beide Teilnehmer einem unterschiedlichen Titel lauschten, die man dann beide verdoppelt durch ihr Echo, aus dem Kanal des anderen Teilnehmers, gleichzeitig hörte.
Ein multimedialer Kopf des frühen 21.Jahrhunderts ließ sich jedoch durch das gleichzeitige Hören unterschiedlicher Musikstücke kaum beeindrucken, war es doch die Angewohnheit vieler, gleichzeitig auch noch zu telefonieren, SMS(short message service) zu schreiben oder zu empfangen auf ihrem Funktelefon, oder auf demselben oder einem Gameboy währenddessen noch zu spielen, wobei seinerseits das Spiel den Schallraum durch seine eigene synthetische Musik noch zusätzlich belastete.
Sogenannte "gesaugte" Musik entstammte Online-Tauschbörsen, deren Teilnehmer gegenseitig ihre Festplatten nach freigegebenen Binärdateien, mit anderen Worten Musik, Filmen, ausführbaren Programmen oder Bildern, durchsuchen konnten, um diese Herunterzuladen, was sich auch Download nannte, oder eben "Saugen".
Die omnipräsente Musik, noch verstärkt durch polyfone Klingeltöne für Funktelefone, Werbemusik in Fernsehen und Radio, oder Spielmusik in Playstations, dies sind Computer, die nicht jedem Zweck, wie John von Neumann und John Nash Anfang der 50er Jahre des 20.Jahrhunderts gefordert hatten, sondern nur einem Zweck, nämlich dem Spiel dienen, führte zu dem Ausspruch "dudelnd geht die Welt zugrunde", der ohne Zweifel ironisch gemeint war.

Schon hier wird deutlich, wie schwer es ist, sämtliche Disziplinen der Internet-Archäologie sauber voneinander zu trennen, von der Erfindung des World Wide Web durch Tim Berners-Lee am schweizer Cern, bis zu der lapidaren Feststellung "sex sells" und unerwünschten E-Mails, die nach einem Fernsehsketch der aus der "Gründerzeit" stammenden Komikergruppe "Monty Python", der 1969 von der BBC ausgestrahlt wurde, "spam" genannt wurden.