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Ein Kapitel aus dem Roman "Das Nichts dahinter'' von D.W. Hölldobler



Ersatzprinzessinnen

Ursels Beerdigung fand am Rande Bonns statt. Es gibt keinen passenderen Ort für Beerdigungen als am Rande Bonns! Die rheinische Kleinstadt strotzt nur so vor Vergänglichkeit. Die Bonner haben eine so große Erfahrung im Hinterhertrauern, daß sie es beinahe schon zu einer Charaktereigenschaft kultiviert haben! Es fing wahrscheinlich an, als der große Sohn Beethoven nach Österreich abgehauen ist. Ungerührt schufen sie ihm ein riesiges Denkmal auf den Münsterplatz und ließen die Augen des Titanen brav nach Wien blicken. Der grüne, grantige Kopf ist ein Mekka für Taubenscheiße. Beethoven rangiert bei der Benennung von Straßen und Gebäuden ganz vorn.

Dagegen gibt es nur eine Nietzschestraße. In einem Neubaugebiet! Der Philosoph hatte nämlich nach einer halbjährigen Sauftour die Schnauze voll vom rheinischen Studentenschwof. Legendär wurde eigentlich nur sein - für die Philosophiegeschichte schon fast religiöser -Puffbesuch zu Köln. Überhaupt liegt Bonn, die knötterige Funkenmarie, wie ein frigides Mauerblümchen neben Köln im rheinischen Bett, dessen Dom als ewiger Dauerständer die Beziehung sozusagen unterstreicht! Thomas Mann übrigens, der den Fickversuch des schüchternen Zarathustra literarisch

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dämonisierte, wurde die Ehrendoktorwürde der Bonner Philosophischen Fakultät von den Nazis wieder aberkannt. Von den Nazis! Nicht von den Bonnern! Entschuldigend wurde aber im Nachhinein eine Straße - sogar im Zentrum! sogar mit Straßenbahnschienen! - nach ihm benannt.

Immerhin konnte Robert Schumann gehalten werden. Wenn auch nicht gerade aus eigener Entschlußkraft! Mit zerrüttetem Geist, sagt man, pilgerte der jeden Tag, von seinem Wärter begleitet, wacker von seiner Endenicher Irreneremitage zum Beethovendenkmal und zurück. Dafür liegt er jetzt als Haupttoter auf dem Alten Friedhof. Die Bonner dankten es ihm mit Dutzenden von Straßen, sogar Häusern. Der Straßenrekordler aber ist eindeutig der Rhöndorfer Adenauer. Der schaffte es, für die Universitätsstadt eine Zeitlang den Hauptstadtstatus unserer Märchenrepublik zu erzwingen, wo die Politiker einst wie Geister ein- und ausflogen. Schlips-und-KragenGeister, die in ihren Hubschraubern über das Siebengebirge spukten, wo es von Ruinen nur so wimmelte: Drachenfels, Löwenburg, Drachenburg, Godesburg! Allesamt gebettet auf den Höhen des Rheins wie Akne auf Beethoven. Am Rande Bonns also, in einem Kaff namens Mehlem, das komischerweise nicht Nibelheim hieß, wie in Wagners Musiktheater, wurde die Ursel beerdigt. ihr Friedhof hieß schlicht Westfriedhof, grenzte an einen Bahndamm, wo Züge wie am Fließband nach Koblenz rollten, vorbei im Loreleyfelsen (wo munter die deutsche Fahne flatterte über den Ausflugslokalen) oder, entgegengesetzt, Richtung Kölner Dom und Karneval. Die Politikerhubschrauber gewitterten wie Rheingoldouvertüren über den Straßen: Rüdigerstraße, Gernotstraße, Hagenstraße.

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Siegfriedstraße, Brünnhildstraße! Im Ernst! Und landeten dann auf dem Petersberg. Einem in tausend Glühlampen erstrahlenden Walhall von Außenministern und Innenministern, wo man über die Zukunft all unserer branchenfesten, aktenkofferschwingenden Siegfriede und Sieglinden beriet, die jenseits der Bannmeile auf den Barhockern tapfer ihre inneren Schweinehunde von Liebeskummer besiegten, und zwischen den Walkmenknorpeln schließlich den Waldvogel verstanden, der sang: Kiss me between the Milky - Twilight, wenn sie nachts nach Hause torkelten und am Fuße des Walkürefelsens sich erkannten am Klang der Spätnachrichten, neuerdings Kevins, Jennifers, Maiks, Rayks für Bits, Bytes, oder die wartenden Turnschuhfabriken zum Wohle der Wälsungenwirtschaft zeugend ...

Also, wie eben noch mein Samen in Ihrem Mund, Verehrteste, versank mir damals alles in diesem Friedhofsidyll. Es war ein Mittag im September 1997. Ursels Beerdigung fiel prompt den Einschaltquoten zum Opfer. Eine etwa 16. Millionen Seelen zählende deutsche Fernsehgemeinde schluchzte nämlich zeitgleich um die Ersatzprinzessin aus England, die sich aus den Schnappschüssen wandte, indem sie im schwarzen Mercedes an einen Betonpfeiler jetsettete. Elton John widmete ihr prompt seine ursprüngliche Hommage an Marylin Monroe, deren Tablettentod damals dramatisch an Mythologie verlor. Auch Mutter Teresa im fernen Kalkutta mußte quasi mit einen Tod im Windschatten vorliebnehmen. Der Mehlemer Friedhof war jedenfalls wie ausgestorben! Wie gesagt: Alles versank mir - außer einer Erkenntnis vielleicht: Daß es keinen geschickteren Höllenritt hätte geben können als meinen!

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Daß alles um mich weiterging wie gehabt! Die Tatsache, daß kein i Stern auf die Erde schlug und keine Fegefeuer wüteten, beleidigte mich. Trotzdem gab es ein Geräusch, das mich glücklich machte. Es war etwas unwiderstehlich Trauriges. Eine Musik wie eine ferne Brandung in einem weißen Land; sowas wie Ihre laotische Hymne vorm Fick gerade - wie Ihr Forellenquintett! Ein Flüstern, das in mir irrlichterte und dem ich stehenden Fußes hätte folgen mögen bis ans Ende der Welt.

Es war mein eigener Atem. Das hatte ich glatt vergessen! Und als es mir wieder bewußt wurde, das Atmen, wollte ich es am liebsten nochmal vergessen! Ich nahm mir vor, mir so lange wie möglich vorzustellen, daß es etwas Fremdes, Höheres außerhalb von mir war. Als wäre es nur dieser musikalische Hauch, und nicht ich selbst, der einzig eine Berechtigung auf Fortinszenierung hätte und mir dadurch erst meine Gattung und Geltung verschaffte. Ich war kurz vorm Gottesbeweis, glauben Sie mir! Gern wäre ich für immer so geblieben. Eine Kreatur dieses von mir abgespaltenen Atemgeschehens - dieses Gottes! Dafür wäre sogar ich gestorben. Ich glaube, daß es ein Vorbeben der Euphorie war. Eine Lichtung ins Denkenmüssen! Aber die Welt ließ ihn mir nicht - Gott ! Sie ließ alles beim Alten da in der Kapelle: beim Nichts, beim Sog, bei leeren Firmamenten.

Beim Mittag anno 97, der sich allmählich weitergestohlen hatte, ganz für sich, weil niemand ihm die Zeit stahl, wie's schien. Hell, allein, bedeutungslos! Ein gestraftes, eigenbrödlerisches Kind! Wie Sie, Teuerste, an Ihrer Möse, spielte er vor den phallischen Fenstern der Friedhofskapelle, dieser Mittag, und befingerte auf gebrochenen Sonnenstrahlen Ursels tote Hochfrisur. Er spiegelte ihre Strähnen

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wie Schilfschatten auf die klare, ruhende Stirn, und ließ ihren Kopf ab und zu - wenn der späte, mürbe, dotterbraune Sonnenball mal prall aus den Wolken kollerte - aufleuchten wie eine Herbstbaumkrone. Ich saß ihr stumm zu Füßen und hatte Sorge, sie zu wecken! Genau das war mein Gefühl! Stellen Sie sich das nur vor! Meine Totenwacht ähnelte einem Werbespot für Schonkaffee, wie ich da so an der Ursel hockte. Für mich schlief die Frau, sonst nichts! Ich hatte dann bald die ganze Behutsamkeit satt! Viel lieber hätte ich mich auf sie gestürzt, ihr die schweigende Sonntäglichkeit durchwühlt, die da im Antlitz lag. Schließlich hielt ich wieder den Atem an. Es geschah nichts mehr. Eine Ewigkeit! Der Mittag war still auf seinem Weg ans Ende der Welt. Dann erhob ich mich. Ich weiß noch, mein rotgepolsterter Stuhl krachte lautstark auf den Rücken in diesen Kulissen der Trauer, ich holte tief Luft, und - krallte mich fest in Ursels Haarschopf, so, als kämpfte ich mit Wasserrohrbrüchen. Ich schrie: "Tu...!", - dann noch einmal: "Tu...!" - Und dann, begleitet von Gesten aus alten Breitwandbibelschinken, übergab ich mich. Ich reiherte der Toten knapp am balsamierten Gesicht vorbei. Sie verzog keine Miene. Mir waren die Dämme gebrochen; ich weinte, brüllte, sang: Tu se' morta, mia vita, ed io respiro?- Du bist tot mein Leben, und ich atme noch? Ich liebe die Oper ... und focht einen Sängerkrieg aus mit Sir Elton John.